Schlagwort: AfD

  • 30 Jahre Warten auf den Aufschwung

    Die Konsequenz: jetzt gibt’s halt AfD.

    In Ostdeutschland geht es um mehr als Wahlergebnisse, es geht um ein Gefühl. Ein dumpfes, tiefsitzendes Gefühl von „Wieder nicht mitgedacht worden“. Die AfD? Ein Symptom, kein Ursprung. Alice Weidel kann mit ihrer inszenierten Bürgerlichkeit so viel von „bürgerlicher Mitte“ schwadronieren, wie sie will – der Erfolg ihrer Partei im Osten hat damit wenig zu tun. Hier wählt man nicht, weil jemand besonders überzeugend argumentiert. Hier wird gewählt, weil sich über Jahrzehnte aufgestauter Frust entladen muss. Ein Frust, der auf keiner Wahlkampfveranstaltung gelöst wird, sondern in der Stille nach 1989 gewachsen ist. Während sich der Westen euphorisch selbst abfeierte, war im Osten längst klar: Man ist jetzt dabei, aber nicht wirklich gemeint.

    Seit Jahren wird nach Erklärungen gesucht. Endlose Talkshows, Feuilletons, wissenschaftliche Studien. Mal ist es die Transformationskrise, mal der demografische Wandel, mal die ewige Mär vom „ostdeutschen Mentalitätsproblem“. Dabei ist die Wahrheit viel banaler, viel unangenehmer: Es geht um einen tiefsitzenden Vertrauensverlust. Wer über Jahrzehnte das Gefühl hatte, dass ihm nichts versprochen und alles genommen wurde, wird misstrauisch. Es ist dieses Misstrauen, das die AfD im Osten so erfolgreich macht – nicht weil die Partei Lösungen bietet, sondern weil sie verspricht, das Establishment maximal zu ärgern. Der Osten wählt aus Prinzip dagegen. Gegen wen oder was genau? Das ist beinahe zweitrangig.

    Und dann plötzlich dieses neue Wort: die „Blaue DDR“. Eine West-Metapher, die hilflos durch Talkshows geistert, weil sie sich so schön skandalös anhört. Eine DDR 2.0? Wer das glaubt, war entweder nie in der DDR oder hat vergessen, wie es sich anfühlte. Die Ostdeutschen wissen, dass die AfD keine Lösung ist – sie wissen aber auch, dass die Alternativen noch weniger bieten. Jahrzehnte des Lohngefälles, der Standortnachteile, der sanft ignorierten Strukturprobleme: Es ist das konsequente Desinteresse der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft, das die Wahlurne im Osten färbt. Es ist eben nicht der Wunsch nach einem autoritären System, sondern die völlige Abwesenheit eines Glaubens daran, dass es noch einen Unterschied macht, wen man wählt. Denn was ist passiert, seit die Mauer fiel? Erst kam die Treuhand und erklärte ganzen Regionen, dass sie wirtschaftlich nicht tragfähig seien. Dann kam die Nachwendezeit, in der die westdeutschen Entscheider dem Osten die Spielregeln erklärten – Demokratie und Marktwirtschaft, zwei Begriffe, die sich für viele Ostdeutsche lange Zeit eher wie Kampfbegriffe denn wie Heilsversprechen anhörten. Und danach? Danach kam eine wirtschaftliche Erholung, die zwar in Statistiken glänzt, aber in vielen Orten nicht ankam. Nach Jahrzehnten voller Versprechen auf Aufschwung und blühende Landschaften stehen noch immer Dörfer mit halb leeren Marktplätzen, verwaisten Bahnhöfen und einer Generation, die längst nach Westen gezogen ist. Wer geblieben ist, lebt oft in einem Niemandsland zwischen „Wir gehören dazu“ und „Aber ernst nimmt uns niemand“.

    Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft hat diesen schwelenden Groll lange übersehen. Man hielt es für eine Phase. Für eine Übergangszeit, die irgendwann vorübergeht. Das Problem dabei: Es ist keine Phase, es ist längst eine neue Realität. Und die AfD? Die hat das besser verstanden als alle anderen. Sie tritt nicht als Partei auf, die den Osten retten will – sie tritt als Partei auf, die den Westen verachten gelernt hat. Das ist der Kern ihres Erfolgs. Sie verkauft sich als Sprachrohr derer, die glauben, dass ihnen ohnehin niemand zuhört. Dabei geht es nicht nur um die Alten, die die DDR noch erlebt haben. Es geht genauso um die Jungen, die das Land nur als „die neuen Bundesländer“ kennen, als eine Region, die immer irgendwie hinterherhinkt, immer irgendwie erklärt werden muss. Die nach dem Abi nicht wissen, ob sie bleiben sollen oder doch lieber nach Berlin, Hamburg oder München ziehen. Die erlebten, wie ihre Eltern und Großeltern für das gleiche Geld härter arbeiten mussten als ihre Verwandten im Westen. Die wissen, dass sie in der Statistik für geringere Löhne, schlechtere Karrierechancen und niedrigere Renten stehen. Die sich von Berlin nicht nur geografisch, sondern auch politisch entfremdet fühlen.

    Und so wählt man im Osten. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Trotz. Weil man sich endlich mal nicht bevormunden lassen will. Weil man dem Westen, dem Establishment, der Regierung, den Medien eine lange Nase drehen will. Das Problem ist nur: Demokratie funktioniert so nicht. Protestwahl ist kein Konzept, auf dem sich eine stabile Gesellschaft aufbauen lässt. Doch wer will es den Wählern verdenken? Sie haben 30 Jahre gewartet, dass sich etwas ändert – und als nichts passierte, haben sie eben selbst entschieden, dass es krachen muss. Die westdeutsche Politik reagiert darauf mit Ratlosigkeit. Man fragt sich, was da schiefgelaufen ist, warum die Ostdeutschen „so sind“. Doch solange man sie weiterhin als Kuriosität, als politisches Rätsel betrachtet, wird sich nichts ändern. Denn das Grundproblem bleibt: Wenn sich eine Gesellschaft über Jahrzehnte übergangen fühlt, wählt sie irgendwann radikal. Ob das nun rechts oder links ist, ist fast egal. Es ist der laute Ruf nach Aufmerksamkeit. Und solange der nicht gehört wird, bleibt alles beim Alten – egal, wie oft man über die „Blaue DDR“ diskutiert.

  • Wenn der Fuchs den Hühnerstall bewacht

    Wie der Osten sich politisch neu erfindet

    Mit voller Wucht ins Ungewisse – der Osten Deutschlands, politisch betrachtet, so ostdeutsch wie nie zuvor. Sachsen, Brandenburg, Thüringen: neue Regierungen, einmalige Konstellationen. Doch was bedeutet das für die Zukunft? Ein Gedankenspiel: Wäre die Ampelregierung in Berlin nicht erst am 6. November, sondern schon vor dem Sommer zerbrochen – vor den Landtagswahlen im Osten –, hätte sich der Frust über das zerstrittene Dreierbündnis vielleicht nicht so drastisch in den Wahlergebnissen entladen müssen. Doch es kam anders. Die AfD triumphierte, SPD, Grüne und FDP erlebten herbe Niederlagen. Dietmar Woidke in Brandenburg musste sogar Bundeskanzler Scholz vom Wahlkampf ausladen, um sich abzusetzen. Ein bemerkenswerter Schachzug, der die Anti-Ampel-Stimmung im Osten unterstreicht.

    Die Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg fanden unter einer politischen Gemengelage im Bund statt, die kurz danach bereits nicht mehr existierte. Die neuen Verhältnisse wirken nun fast wie aus einer alten Zeit ins politische Jetzt hinein. Und dieses politische Jetzt wird nach der Bundestagswahl im Februar schon wieder ein wenig nach alter Zeit aussehen. Ein politisches Déjà-vu, das Fragen aufwirft.

    Die Folgen für die Ampelparteien waren gravierend. Die Grünen tauschten ihre Parteispitze aus, Kevin Kühnert trat als SPD-Generalsekretär zurück, die FDP entwarf ihr geheimes „D-Day“-Szenario für den gezielten Koalitionsbruch. Interessanterweise wurde kaum diskutiert, ob all das mit den Ostwahlen zusammenhängt. Ein blinder Fleck in der politischen Analyse?

    Die politische Realität im Osten hat sich nach diesen Wahlen maßgeblich verändert. Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kommt eine weitere politische Farbe hinzu. BSW, AfD und die Linke – drei Parteien, die im Westen keine so große oder nur marginale Rolle spielen. Der Osten denkt anders, wählt anders. Kommen die ostdeutschen Länder damit politisch zu sich selbst? Wenn ja, wie sieht das aus?

    Volatil, fragil, paradox. Das Regieren dürfte reichlich kompliziert werden. In Brandenburg hat die SPD-BSW-Koalition nur eine hauchdünne Mehrheit, und mit Wagenknechts Bündnis regiert eine Partei, die über keinerlei Erfahrung verfügt. In Thüringen führt Mario Voigt (CDU) eine Patt-Regierung mit SPD und BSW an; für jede Mehrheitsentscheidung muss er bei der Opposition um Stimmen werben, und die AfD verfügt über eine Sperrminorität. Am schwersten hat es wohl Michael Kretschmer in Sachsen. Er steht einer historisch kleinen Minderheitsregierung vor, die es in der Geschichte der Bundesrepublik so noch nicht gab. Wenigstens kennt er in seiner Mini-Regierung den Koalitionspartner, die SPD. Doch keine dieser Konstellationen existiert in einem anderen Bundesland, alle sind singulär.

    So ostdeutsch war der Osten noch nie, politisch betrachtet. Diese Situation kann zu großer Disziplin unter den demokratischen Parteien führen – oder in heillosem Chaos enden. Wahrscheinlich erleben wir beides im Wechsel.

    Bei den Regierungsbildungen ließ sich das bereits beobachten. Zweimal stiftete das BSW Chaos: einmal, als es sich mitten in den Thüringer Koalitionsverhandlungen im Streit um die sogenannte Friedenspräambel beinahe selbst zerlegte. Und ein weiteres Mal, als die sächsische BSW-Fraktion, nur wenige Stunden nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und kurz bevor in der Nacht dann auch die Ampel brach, überraschend die Verhandlungen in Dresden platzen ließ – wahrscheinlich auf Wunsch von Sahra Wagenknecht persönlich.

    Die Wahlen der Ministerpräsidenten dagegen liefen überraschend glimpflich ab – vor allem in Sachsen und Thüringen. Die Landesparteien der Linken disziplinierten sich und gaben ihre Stimmen den beiden Konservativen Kretschmer und Voigt. Doch das sollte nicht zu Illusionen führen: Sie nahmen der AfD damit jeden Spielraum und versetzten die neuen Landesregierungen in eine Bringschuld. Die Politik der CDU wird in Sachsen und Thüringen zukünftig maßgeblich von linken Parteien abhängig sein. Sie wird also selbst nach links rücken müssen – obwohl Friedrich Merz seine Partei im Bund wieder stärker ins Konservative wendet und obwohl der Osten insgesamt weiter nach rechts gerückt ist. Ob das gut geht? Wird sich die CDU darauf einlassen?

    Überraschungsmomente werden in Zukunft normal sein. Ausnahmen dürften im Osten zur Regel werden, denn bei wichtigen Entscheidungen kommt es nun stets auf jede Stimme an. Das verlangt von den Regierungskoalitionen einerseits ungeheure Geschlossenheit und in der Zusammenarbeit mit der demokratischen Opposition große Kompromissfähigkeit. Das ist die „neue politische Kultur“, die von vielen Politikern zwischen Dresden und Erfurt indessen so gerne beschworen wird.

    Eine Stimme wird dabei wichtiger als alle anderen: die von Sahra Wagenknecht, der Populistin. Für Kompromissfähigkeit ist sie nicht bekannt. Doch sie verfügt fortan über so viel Macht wie kaum jemand anderes im Osten, denn ohne ihre Zustimmung geht in Sachsen, Thüringen und Brandenburg so gut wie nichts mehr. Dass sie ihre Landesverbände an der kurzen Leine führen wird, daran besteht kaum ein Zweifel. So führt sie ja die gesamte, nach ihr benannte Partei. Wie wird sie agieren, wenn sie bei der Bundestagswahl im Februar an der Fünfprozenthürde scheitern sollte? Wird sie dann über die Länder versuchen, ihren frontalen Oppositionskurs zu organisieren? Durchaus möglich. Für weniger Chaos spricht das nicht.

    Vieles wirkt wie ein statischer Übergang, ein Provisorium. Als wäre der Osten auf seiner langen Suche nach sich selbst noch eine Weile unterwegs. Denn dass diese drei Landesregierungen lange halten, darauf sollte man nicht viel wetten. Dass sie den zunehmenden Rechtsruck aufhalten können, auch nicht. Werden sie die letzte Etappe sein, bevor die AfD irgendwo in Regierungsverantwortung kommt?

    Vielleicht kommt es anders. Doch dafür müssten sich die Demokraten mit voller Wucht und viel Mut ins Neue stürzen. Und ins Ungewisse. Denn nur so könnten die Gewissheiten eines Tages wieder größer werden.

  • Wie Deutschlands Jugend zwischen Populismus und Progressivität schwankt


    11/9/2024

    Wie Deutschlands Jugend zwischen Populismus und Progressivität schwankt

    Ein gefährlicher Trend?

    Die aktuelle Shell-Jugendstudie offenbart einen scheinbar widersprüchlichen Trend: Während Extremisten auf Plattformen wie TikTok massive Reichweiten erzielen und die AfD bei Erstwählern Rekordergebnisse verbucht, bleibt die Mehrheit der deutschen Jugend laut der Studie linksorientiert. Der Populismus jedoch findet beunruhigend viel Gehör, besonders bei denjenigen, die sich abgehängt fühlen. Auffällig ist, dass der Rechtsruck vor allem bei jungen Männern zu beobachten ist, während sich junge Frauen eher links positionieren. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass gerade die, die sich in gesellschaftlichen Randlagen befinden, am stärksten für die einfachen Antworten der AfD empfänglich sind.

    Eine weitere erschreckende Erkenntnis ist die weitverbreitete Zustimmung zu populistischen Aussagen. Fast die Hälfte der befragten Jugendlichen stimmt unter anderem der These zu, dass der Staat sich mehr um Flüchtlinge als um bedürftige Deutsche kümmere. Auch die Vorstellung, eine „starke Hand“ müsse wieder für Ordnung sorgen, findet bei knapp der Hälfte der Jugendlichen Anklang. Diese Zahlen werfen die Frage auf, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass solche simplen und oft falschen Narrative eine so breite Akzeptanz finden.

    Doch was tun gegen diese gefährliche Entwicklung? Es reicht nicht, den Populismus nur anzuprangern. Es muss eine bewusste und kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Ursachen des Unbehagens geben. Die Verdrossenen, von denen sich viele zur AfD hingezogen fühlen, brauchen Perspektiven und das Gefühl, in der Gesellschaft nicht abgehängt zu sein. Gleichzeitig sollte der Kampf gegen populistische und rechtsextreme Inhalte im digitalen Raum intensiviert werden. Plattformen wie TikTok bieten diesen Ideen einen viel zu ungehinderten Raum.

    Eine Antwort könnte in verstärkter politischer Bildung liegen. Wenn Jugendliche schon in der Schule lernen, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, fällt es schwerer, sich von plakativen Parolen einfangen zu lassen. Auch die Förderung eines breiten gesellschaftlichen Dialogs, in dem verschiedene politische und soziale Perspektiven Raum finden, kann dazu beitragen, dass der Diskurs nicht den Rändern überlassen wird.

    Der Erfolg der AfD bei jungen Wählern ist ein Alarmsignal, das ernst genommen werden muss. Nur durch langfristige Bildungsarbeit, soziale Investitionen und den Kampf gegen digitale Desinformation kann dieser Trend gestoppt werden. Es braucht dringend ein gesellschaftliches Umdenken, um den Populismus nicht noch weiter um sich greifen zu lassen. Die Shell-Studie zeigt: Noch ist nicht alles verloren, aber es ist höchste Zeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen.