Schlagwort: Grundwerte

  • Anderssein als Stärke

    Vom Rand ins Zentrum der Republik

    „Das neue Ostbewusstsein“ – klingt das für manche nicht nach einem Slogan aus dem politisch längst vergessenen Abstellraum? Die Erinnerung an endlose Wiedervereinigungsrituale und die dröhnenden Parolen von „blühenden Landschaften“, die nie ganz aus ihrem metaphorischen Winterschlaf erwachten, hallen dabei irgendwie mit. Aber das hier, das ist etwas anderes, etwas Neues, etwas Rohes. Es ist eine Stimmung, die man nicht einfach ins Parteiprogramm packen oder mit den üblichen Wohlfühlfloskeln in die politische Mitte pressen kann. Es ist kein aufpoliertes Narrativ der Einheit, sondern ein unüberhörbares Raunen aus einer Region, die gelernt hat, mit ihrer eigenen Widersprüchlichkeit zu leben.

    Ostdeutschland 2025. Dreißig Jahre Transformation liegen hinter uns, aber es ist diese merkwürdige Phase danach, die alles verändert hat. Keine Jahrhundertprojekte mehr, keine rituellen Abhandlungen über den großen wirtschaftlichen „Aufbau Ost“. Stattdessen: eine Leerstelle, die plötzlich zu sprechen begann. Und das, was sie sagt, ist nicht bequem, nicht kompatibel mit der westdeutschen Erzählung, aber genau deshalb so eindringlich. Ein neues Selbstbewusstsein entsteht. Ein Ostbewusstsein, das sich nicht mehr als Anklage oder als ständige Rechtfertigung formuliert, sondern als eine Art politische und kulturelle Unabhängigkeit.

    Aber was bedeutet das konkret? Es ist die Absage an die jahrzehntelange Erwartung, der Osten müsse irgendwann so werden wie der Westen – wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch. Es ist die Erkenntnis, dass die Unterschiede nicht nur bestehen bleiben, sondern dass sie genau das sind, was den Osten in seiner Widersprüchlichkeit ausmacht. Es ist das Bewusstsein, dass diese Region immer auch eine Projektionsfläche war: für westdeutsche Politik, die sich mit Fördergeldern von ihrer eigenen kolonialen Arroganz freikaufen wollte, für linke Träume von sozialistischer Gerechtigkeit, für rechte Fantasien von nationaler Homogenität.

    Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Laut einer aktuellen Umfrage identifizieren sich immer mehr Menschen im Osten stärker mit ihrer Region als mit der Bundesrepublik insgesamt. Und das ist kein Rückfall in irgendeine Form von Provinzialismus. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich nicht mehr nur über die Maßstäbe einer westlich geprägten politischen und kulturellen Dominanz definieren zu lassen. Das Ostbewusstsein hat gelernt, sich selbst ernst zu nehmen, ohne sich dabei gleich ins nostalgische „Früher war alles besser“-Feld zu verabschieden.

    Natürlich ist das auch eine Reaktion auf die Ignoranz der Bundespolitik. Während Berlin in Sonntagsreden von Chancengleichheit und gleichwertigen Lebensverhältnissen spricht, tickt die politische Realität im Osten längst anders. Hier haben Parteien wie die AfD nicht nur einen symbolischen Wert, sie sind Ausdruck eines tiefen Vertrauensverlusts in die Demokratie. Wer hier von einem „neuen Bewusstsein“ spricht, muss auch von der Wut sprechen, von der Frustration, die sich aus einem jahrzehntelangen Gefühl der politischen Entmündigung speist.

    Doch dieses Ostbewusstsein ist mehr als Protest. Es ist auch die Lust an der eigenen Geschichte, an der eigenen Erzählung. Plötzlich wird die DDR nicht mehr nur als Fußnote der deutschen Geschichte betrachtet, sondern als Teil einer kollektiven Identität, die in all ihrer Widersprüchlichkeit zu einer echten Ressource geworden ist. Die Frage ist nicht mehr, ob das Osten-sein irgendwann überwunden werden kann, sondern wie es als Stärke neu interpretiert werden kann.

    Die Medien? Tun sich schwer damit. Für viele bleibt der Osten der ewige Problemfall, eine Art Ausnahmezustand der Republik. Aber diese Erzählung bröckelt. Gerade junge Ostdeutsche wehren sich zunehmend gegen die Stereotype von rechtsradikalen Randgebieten und wirtschaftlich abgehängten Regionen. Das Internet spielt dabei eine Schlüsselrolle. In sozialen Netzwerken, in Blogs und Podcasts formiert sich eine neue, selbstbewusste Generation, die ihre eigene Sprache findet – und das oft in einem Tonfall, der westliche Beobachter irritiert.

    Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, den Osten als Problemzone zu betrachten, die es zu „lösen“ gilt. Das neue Ostbewusstsein ist kein Hilferuf, es ist eine Ansage. Eine Region, die nicht mehr nur verwaltet werden will, sondern ihren Platz in der Bundesrepublik auf ihre eigene Art definiert. Es ist eine politische, kulturelle und soziale Bewegung, die keine einfachen Antworten liefert, aber genau deshalb so wichtig ist.

    Wie schrieb die taz kürzlich so treffend: „Der Osten hat nie aufgehört, anders zu sein.“ Aber genau in diesem Anderssein liegt die Chance. Es ist an der Zeit, dass wir lernen, den Osten nicht mehr durch die westliche Brille zu sehen, sondern als das, was er ist: ein eigenständiger, vielschichtiger Teil Deutschlands, der gerade dabei ist, sich neu zu erfinden – und damit auch den Rest der Republik verändert.

  • Warum wir Zuversicht aus Ostdeutschland schöpfen sollten

    Selbstverständnis als Schlüssel

    Deutschland, ein Land der dauerhaften Krisenbewältigung, findet selten Anlass zur Selbsterhebung, und noch seltener geschieht das in Ostdeutschland. Doch wer sich auf die schier endlose Litanei des Jammerns einlässt, verkennt das Bild einer Region, die – bei aller berechtigten Kritik – in den letzten 35 Jahren eine der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen der Welt vollbracht hat. Eine Transformation, die, wie so oft, mehr in die Annalen der Unzufriedenheit eingeht als in die Chroniken der Hoffnung. Vielleicht ist gerade deshalb eine neue Perspektive gefragt: eine, die endlich die tiefen Narben erkennt, aber die ebenfalls das Potenzial in den Vordergrund stellt.

    Man muss sich einmal die Fakten vergegenwärtigen. Fast 80 Prozent der DDR-Industriearbeitsplätze waren wenige Jahre nach der Wende verschwunden, der Osten sah sich in einer existenziellen Umbruchsituation, die Millionen von Menschen zu Pendlern, Umschulern und Erfindern ihrer eigenen Lebensläufe machte. Dass in dieser Region heute Rekordbeschäftigung herrscht, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer unerschütterlichen Resilienz. Doch diese Leistung findet sich selten im gesamtdeutschen Selbstbewusstsein wieder. Stattdessen wird das Narrativ der gescheiterten blühenden Landschaften, der kollektiven Traumatisierung, der ewigen Opferrolle gepflegt, als wäre das der einzige Kitt, der die Erinnerung an diese Zeit zusammenhält.

    Doch warum diese Dissonanz zwischen Erfolg und kollektiver Unzufriedenheit? Warum hält sich die Stimmung von Abgehängtheit und Verzweiflung? Sicherlich, es gibt handfeste Gründe: Löhne, die im Durchschnitt immer noch 20 Prozent niedriger sind als im Westen. Ein Gender Pay Gap, der nicht einfach wegdiskutiert werden kann. Eine Vermögenssituation, in der ostdeutsche Haushalte im Vergleich zu westdeutschen bei Weitem nicht mithalten können. Das alles ist real, spürbar, und in keiner Weise wegzuwischen. Und doch: Deutschland, so zeigen es EU-Studien immer wieder, ist eines der am besten ausgeglichenen Länder der Welt in Bezug auf regionale Unterschiede. Die Unterschiede, die hierzulande zwischen Ost und West bestehen, verblassen im Vergleich zu den historischen Einkommensgefällen zwischen Nord- und Süditalien oder dem englischen Norden und London.

    Aber es geht um mehr. Es geht um die Frage, wie eine ganze Gesellschaft von diesem tiefen Empfinden der Wertlosigkeit befreit werden kann. Dass Politiker in Ostdeutschland zunehmend auf rechtsextreme Rhetorik setzen, liegt nicht zuletzt an diesem unterirdischen Selbstwertgefühl. Hier könnten wir von der US-Soziologin Arlie Russell Hochschild lernen, die den Trumpismus als eine politische Bewegung des emotionalen Ressentiments beschreibt: Menschen, die sich zu kurz gekommen fühlen, lassen sich nur zu leicht mit einfachen Feindbildern ködern. Dieselbe Dynamik zeichnet sich in Ostdeutschland ab, wo aus wirtschaftlichem Unbehagen kulturelle und politische Abstiegsängste werden, die sich in einem unreflektierten Nationalismus entladen.

    Was würde es jedoch bedeuten, wenn man die Erfolge dieses Landesteils einmal anders erzählt? Wenn die Hartnäckigkeit, der Pragmatismus, die kreative Zähigkeit dieser Menschen als etwas Positives betrachtet würden? Denn die ostdeutsche Realität ist nicht die eines Dauer-Misere-Brennpunkts. Vielmehr sind es Orte wie Dresden, Leipzig oder Erfurt, die sich in den letzten Jahren zu Wirtschaftsstandorten von internationalem Rang entwickelt haben. Start-ups sprießen hier nicht nur, sie gedeihen. Innovative Forschungszentren und Universitäten binden immer mehr junge, kreative Köpfe, und diese schaffen Perspektiven, die weit über das einfache „Über-die-Runden-kommen“ hinausgehen.

    Wenden wir uns also von der Erzählung des ewigen Niedergangs ab und fragen wir uns: Warum gibt es hier Hass statt Stolz? Warum nehmen Abschottung und Ausgrenzung zu? Vielleicht, weil Anerkennung nie die Enttäuschung überwunden hat. Die Anerkennung dafür, dass man die härtesten Jahre nach der Wende überstanden hat, dass sich Ostdeutschland trotz aller Widrigkeiten behauptet hat. Die Zahlen zur Lebenszufriedenheit sprechen eine eigene Sprache: Menschen hier sind – im persönlichen Bereich – zufrieden, und trotzdem verfestigt sich die gesellschaftliche Unzufriedenheit. Es ist, als habe man gelernt, sich individuell glücklich zu arrangieren, während das Kollektivgefühl weiter am Abgrund balanciert.

    Diese Diskrepanz, zwischen dem privaten Leben und dem kollektiven Narrativ, ist ein Riss, der nur heilen kann, wenn Ostdeutschland endlich aus dem Schatten einer negativ besetzten Transformation heraustritt. Die Fakten sprechen für sich: Eine stetig wachsende Innovationskraft, eine Arbeitslosenquote, die vielerorts so niedrig ist wie im Westen, und eine Infrastruktur, die in den letzten Jahren Schritt für Schritt modernisiert wurde. Doch hier ist auch der Staat gefragt: Die Daseinsvorsorge muss weiterhin Priorität haben, und die Gesundheitsversorgung, die soziale Absicherung und die Sicherheit auf der Straße dürfen keine rhetorische Verhandlungsmasse werden.

    Die Ängste vor dem demografischen Wandel sind berechtigt, ebenso wie die Sorgen um den sozialen Zusammenhalt. Aber wer glaubt, dass Rechtsextreme und ihre politischen Brandreden diesen Wandel abfedern könnten, irrt sich. Wir stehen vor der Aufgabe, die soziale Spaltung nicht zu vergrößern, sondern zu minimieren. Der Schlüssel dazu ist nicht Ausgrenzung, sondern ein neues Selbstverständnis: eines, das die vergangenen 35 Jahre nicht nur als Traumabewältigung begreift, sondern als Lektion in Widerstandsfähigkeit und Anpassung.

    Es ist Zeit, sich auf den Stolz zu besinnen, der in den gelebten Biografien Ostdeutschlands steckt – ein Stolz, der nicht nationalistisch verblendet sein muss, sondern solidarisch und inklusiv. Der 35. Jahrestag des Mauerfalls war mehr als ein historischer Glücksfall; er war der Beginn einer Geschichte, die wir, die Generationen nach der Wende, noch immer mitschreiben. Und diese Geschichte hat weit mehr verdient, als in den Vergessenheitssumpf des deutschen Selbstzweifels zu sinken.

  • Die blinde Seite der Einheit

    Reparationen, Demontage, Ungleichheit – die ökonomischen Lasten der ostdeutschen Vergangenheit

    Die Wiedervereinigung Deutschlands wird oft als Erfolgsgeschichte verkauft. Doch wer genauer hinschaut, erkennt schnell, dass in dieser Erzählung ein blinder Fleck existiert: die tiefgreifenden wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen Ost und West, die nicht allein durch den Sozialismus der DDR erklärt werden können. Die ökonomischen Strukturen, die den Osten auch heute noch belasten, sind vielmehr das Ergebnis einer jahrzehntelangen systematischen Benachteiligung, die mit der Teilung Deutschlands und den darauf folgenden Reparationszahlungen an die Sowjetunion ihren Ursprung nahm. Während die westdeutschen Bundesländer durch den Marshall-Plan aufblühten, wurden der DDR ihre wirtschaftlichen Grundlagen entzogen.

    Maschinen, Rohstoffe und ganze Produktionsstätten wurden aus dem Osten demontiert und nach Russland verschifft. Der Osten zahlte seine Schulden ab, während der Westen durch die Unterstützung der Alliierten wirtschaftlich prosperierte. Es ist daher kein Zufall, dass die Wirtschaftskraft des Ostens noch immer weit hinter der des Westens zurückbleibt. Eine umfassende Wirtschaftsdemontage wie jene, die die DDR in den 1950er Jahren erlebte, wäre in der Bundesrepublik undenkbar gewesen. Die Ungleichheit, die daraus entstand, prägt die Wirtschaftslandschaft Deutschlands bis heute.

    Die Lohnlücke von rund 19 Prozent ist nicht nur ein Symbol für die anhaltende Benachteiligung der Ostdeutschen, sondern auch Ausdruck einer fehlgeleiteten Politik, die seit 1990 zu wenig unternommen hat, um die strukturellen Ungleichheiten zu beheben. Und das, obwohl die Wirtschaft im Osten oft schneller wächst als im Westen. Der Osten bringt beständig Leistung, erhält jedoch nicht die gleiche Anerkennung – weder finanziell noch politisch.

    Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine sächsischen Vertreter wie Markus Schlimbach haben zurecht auf diese Missstände hingewiesen und fordern eine Politik, die endlich die Bedeutung von Tarifverträgen anerkennt. Ohne eine stärkere Tarifbindung werden die Löhne im Osten nicht nachhaltig steigen. Es ist eine politische Verantwortung, die ökonomische Benachteiligung endlich zu beenden. Sachsen, das Bundesland mit der geringsten Tarifbindung, hat eine Vorbildfunktion. Wer den Osten stabilisieren will, muss nicht nur Sonntagsreden über Einheit und Gerechtigkeit halten, sondern konkrete Taten folgen lassen: Die Einführung eines Vergabegesetzes mit Tariftreue ist ein erster wichtiger Schritt, den die CDU in Sachsen bislang jedoch blockiert hat.

    Die Ungleichheit zwischen Ost und West ist keine historische Kuriosität, sondern eine andauernde Ungerechtigkeit, die endlich angegangen werden muss. Wer sich weigert, aktiv gegen die Lohnlücke vorzugehen, verrät die Versprechen der Einheit.